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Bastian Kresser. Ciabot Oktober 2021.

Text und Photos Bastian Kresser*

 

Piemont. Das Wort allein reicht aus, um den Geschmack von Kirschen, Rotwein, Trüffel und Haselnüssen auf meiner Zunge hervorzurufen.

Ich erinnere mich an die Zeit dort, sehe die Bilder vor meinem inneren Auge und denke mir: Kann das wirklich sein?

Kann ich meiner Erinnerung trauen? Sie ist ein Schelm, gerne spielt sie mir Streiche. Sie verändert Gewesenes, romantisiert, legt, wie selbstverständlich, einen Filter über die Bilder in meinem Kopf. Dieses Mal gelingt es ihr nicht, da die prächtigen Farben, der milde morgendliche Dunst und die fesselnde Schönheit der Langhe ihr zuvorgekommen sind.

Es ist Herbst und ich fahre zum ersten Mal auf den kurvigen Straßen, betrachte staunend die atemberaubende Landschaft, mit ihren sanften Hügeln, endlosen Weinbergen und den malerischen Städtchen, in deren Zentrum stets eine mehrere hundert Jahre alte Kirche thront.

Ich lenke mein Auto entlang enger Straßen, der Verkehr wird weniger, irgendwann ist er kaum mehr existent. Beinahe alle fünf Minuten bleibe ich stehen, steige aus, lausche der Stille, atme tief ein, versuche, den Moment festzuhalten, ihn tief in mir abzuspeichern, um später, wenn es wieder grau und dunkel wird, davon zu zehren.

Ich lasse meinen Blick über die Weinberge schweifen, die sich in allen Farben des Herbstes präsentieren und ein Gedanke macht sich in mir breit, der mich in den kommenden Tagen immer wieder verfolgen soll: Mein Vokabular reicht nicht aus.

Ich bin hier, um zu schreiben, mich der Sprache zu widmen, an einem neuen Roman zu arbeiten und komme nicht umhin, über die Ironie zu schmunzeln, dass ich mich an einem unbeSCHREIBlichen Ort befinde. Es sind Farben, die mein Herz berühren und die mir vor Augen führen, dass mein Wortschatz, den ich mir mühsam in den letzten vierzig Jahren aufgebaut habe, nicht genügt, um das zu schildern, was mich gerade umgibt.

Es käme einem Vergehen gleich, die Farben der Weinberge schlicht und einfach als gelb, orange, rot und braun zu bezeichnen. Nein, ich brauche mehr, um die immense Palette adäquat in Worte fassen zu können. Ich krame in meinem Kopf und finde Begriffe wie Honiggelb, Scharlachorange, Backsteinrot und Olivbraun. Ein guter Anfang, denke ich mir. Doch noch lange nicht gut genug.

Ich nehme mir vor, die Begriffe zu googeln, sobald ich in meiner Unterkunft angekommen bin – und vergesse meinen Entschluss im selben Moment, in dem ich das Ciabot betrete, den Ort, den Yvonne Amann und ihr Mann Jörg mir eine Woche zur Verfügung gestellt haben, um mich dort voll und ganz dem Schreiben zu widmen.

Es ist eine Mischung aus mittelalterlicher Burg und stylischem Loft. Moderne, helle Architektur, eingebettet in alten steinernen Gemäuern. Dies ist ein Ort, um zu sich selbst zu finden, denke ich mir, nicht um Zeit im Internet zu vergeuden.

Jeden Tag mache ich einen Ausflug, streife durch die kleinen Städtchen, Monforte d’Alba, Dogliani, Mondovì, eines bezaubernder als das andere, treffe meine Gastgeberin in einer Osteria, trinke Wein, genieße die köstlichen Häppchen. Yvonne flüstert mir ein Geheimnis über den verschlossenen Kellner ins Ohr, dessen Familie dieses Restaurant schon seit mehr als hundert Jahren führt: Er misstraue Radfahrern, sagt sie und lacht. In ihren engen Hosen sei nicht genug Platz, um Geld darin aufzubewahren.

In einer Schenke lerne ich Mauro kennen, einen Einheimischen, der die Gegend über alles liebt und nicht anders kann, als ständig über sie zu schwärmen. Verträumt schildert er die kühlen, herbstlichen Morgen, an denen nur die Spitzen der Hügel aus dem Nebel ragen. Er schließt die Augen für einen Moment, öffnet sie, trinkt sein Weinglas in einem Zug leer und verabschiedet sich lächelnd.

Die Woche ist schnell vorbei. Was bleibt, sind Bilder, Szenen, Gerüche, Geschmäcker und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.

Wieder zu Hause war ich drauf und dran, die Farben, die ich nicht beschreiben konnte, zu googeln. Ich habe es nicht getan.

Letztendlich wäre es stets ein Versuch, das in Worte zu fassen, was man mit eigenen Augen gesehen haben sollte.

 

*Bastian Kresser, 1981 in Feldkirch geboren, studierte Anglistik und Amerikanistik mit Fokus auf amerikanischer Literatur an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.

Im April 2013 erschien sein Debütroman Ohnedich, für den er 2014 den achensee.literatour-Preis erhielt. 2014 wurde ihm der Anerkennungspreis der Wuppertaler Literatur Biennale für die Kurzgeschichte „Vergessen“ verliehen. 2016 erschien sein zweiter Roman Piet.

Bastian Kressers dritter Roman Die andere Seite ist im März 2019 im Braumüller Verlag erschienen und behandelt in sieben ineinander verstrickten Geschichten die Flüchtlingskrise.

2021 erschien sein vierter Roman mit dem Titel Klopfzeichen. Dieser historische Roman dreht sich um das Leben der drei Fox Schwestern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihre Tätigkeit als Spiritistinnen und ihre unerklärlichen Séancen berühmt wurden. Weiters erschienen seine Texte in verschiedenen Literaturmagazinen und Tageszeitungen.

Bastian Kresser lebt und schreibt in Vorarlberg.

 

Publikationen:

Romane

  • Klopfzeichen, Braumüller, Wien 2021
  • Die andere Seite, Braumüller, Wien 2019,
  • Piet, Limbus, Innsbruck 2016
  • Ohnedich, Limbus, Innsbruck 2013

Übersetzungen

  • Hellwach, am Rande des Schlafs, Hanser, München 2012, Gedichte von Wallace Stevens. Übersetzt von Joachim Sartorius, Hans Magnus Enzensberger, Karin Graf, Michael Köhlmeier und Bastian Kresser.

Website: bastiankresser.com

Instagram: @bastiankresser